Wenn das Kind nicht beide Elternteile lieben darf
Dies ist ein sehr persönlicher Post, denn dieses Thema zieht sich wie ein Faden durch mein ganzes Leben. Ich bin in einer mehr oder weniger intakten Familie aufgewachsen und meine Eltern trennten sich „erst“ als ich über 20 Jahre alt war. Meine jüngere Schwester war damals 9. Meine Älteste hatte bereits selber Kinder.
Ich kann mich nicht an viel aus meiner Kindheit erinnern, aber ein Bild habe ich klar vor meinem inneren Auge, wenn ich an meine Eltern denke:
Die Küchentischlinie
Meine große Schwester und ich saßen am Fenster uns gegenüber am kleinen Küchentisch zu den Mahlzeiten. Unsere Eltern saßen neben uns. Meine Mutter neben meiner Schwester. Mein Vater neben mir.
Und genau diese Aufteilung war mein Dilemma. Sie steht hier stellvertretend und symbolisch für mein Erleben in der Kindheit.
Mir wurde eine Rolle aufgezwängt. Nämlich die des Lieblingskindes meines Vaters. Meine große Schwester war das Lieblingskind meiner Mutter.
Ich durfte nicht beide lieben. Wenn ich meine Mutter lieben wollte, musste ich meinen Vater ablehnen. Wenn ich meinen Vater lieben wollte, stellte ich mich gegen meine Mutter.
Meine Mutter machte dies nicht bewusst. Selber kam sie aus der gleichen Rollenverteilung in ihrer Herkunftsfamilie. Da war sie die Lieblingstochter des Vaters und ihre jüngere Schwester, die der Mutter. Ich trat quasi in ihre Fußstapfen, weil sie mich unbewusst dorthin drängte.
Ich durfte nie beide gleichzeitig lieben. Nicht offensichtlich.
Denn ich liebte und liebe immer noch BEIDE. So richtig zeigen darf ich das meiner Mutter bis heute nicht. Es kränkt sie & sie macht mir Vorhaltungen. Heute noch. Ich bin 36 Jahre und es trifft mich immer noch mitten ins Herz.
Warum ich das erzähle?
Ich will nicht, dass es meiner Tochter genauso geht!
Wenn ich vor meinem inneren Auge in die Zukunft meiner Tochter blicke, sehe ich sie als eine junge, hübsche und selbstbewusste Frau, die Vertrauen in sich und in das Leben hat. Das Selbstbewusstsein fundamentiert auf einer starken Basis. Und diese Basis sind die Eltern. Ich möchte nicht, dass sie sich ihre Bestätigung nur aus Zuwendungen anderer holt. Diesen Grundstein bekommen wir in der Kindheit gelegt – oder eben auch nicht. Bei mir wackelt er immer wieder. Weil ich meinen Vater zwar als festen und aber nicht als positiven Bestandteil in meinem Leben betrachten durfte. Er wurde zu einer Figur, die ich lieben wollte, aber nicht durfte, ohne dafür von meiner Mutter abgewertet zu werden.
Trotz aller Schwierigkeiten, die ich mit dem Kindsvater habe: Matilda darf ihren Vater lieben. Und mir das erzählen und zeigen. Und es ist ok für mich, weil ich spüre und weiß, sie liebt mich genauso. Wenn nicht noch mehr.
Ich vertraue der engen Bindung die meine Tochter und ich haben. Ich kann sie loslassen (für zwei Wochen zu ihrem Vater) weil ich weiß, sie kommt glücklich und freiwillig wieder zu mir zurück.
Ich vertraue der Liebe, die meine Tochter und ich gegenseitig füreinander empfinden. Das Band der Mutterliebe in den ersten sieben intensiven Jahren ist stark und fest.
Ich vertraue meiner Tochter, die ein gutes Gespür für Menschen entwickelt hat und sensibel und offen zugleich ist.
Ich vertraue dem Kindsvater, weil ich weiß, dass er unsere Tochter liebt und will, dass es ihr gut geht.
Ich vertraue mir, weil ich in der Zeit als alleinerziehende Mama mehr Selbstbewusstsein entwickelt habe. Und ich habe vertrauen in mich: in meine Empfindungen und Fähigkeiten.
Eine Frau wird mit jedem Tag „mehr Mutter“. Nämlich stark und unerschütterlich in der Liebe zu ihrem Kind.
Das ist das, was meiner Mutter gefehlt hat. Vertrauen in sich selbst und in mich. Und somit das Vertrauen in die unerschütterliche gegenseitige Mutter – Kind Liebe.
Liebst, Anne
