Pendelkinder

Die ARD zeigte gestern Abend einen wertvollen Beitrag zum Thema Wechselmodell. Die Erstausstrahlung hatte ich leider verpasst, dafür ist der knapp 30-minütige Film von Rita Knobel-Ulrich in der ARD Mediathek bis Januar 2022 zu sehen. Entweder Pendelkinder in der Suchleiste eingeben oder auf unten stehenden Link klicken.

Gezeigt wird der Lebensalltag verschiedener Schulkinder im Wechselmodell und Nestmodell. Der Fokus ist auf das Erleben aus Kinder- und deren Elternsicht gerichtet. Der dazugehörige Artikel vom Spiegel „Eine Woche Mama, eine Woche Papa“ fasst die Sendung gut zusammen.

Was eine objektive Sicht auf das noch viel zu wenig gelebte Modell erschwert, ist die Hervorhebung zweier Triggerpunkte:

Pendeltasche

Auffällig ist die Kameraeinstellung vom Kind, welches immer wieder die Tasche packen muss. Im Beispiel von Luna, während sie beim Vater die Pendeltasche packt und bei der Mutter ihren Pulli und ihre Bücher in den Schrank räumt: „Sie muss die Trennung ihrer Eltern jede Woche aufs Neue schultern.“, so der Kommentar von Rita Knobel-Ulrich. Luna hat die Trennung der Eltern erst spät akzeptieren können und lange gehofft Mama und Papa kommen wieder zusammen. Ein Wunsch, welches wohl jedes Trennungskind hat. Schmerzliche Abschiede gehören zum Residenzmodell ganz genauso dazu wie im Wechselmodell. Bis auf die Geschwister im Nestmodell wird die Pendeltasche als Instrument benutzt, um den Zuschauer bewusst zu beeinflussen.

Bahnfahrt

Ein weiterer Punkt ist das alleinige Bahnfahren, um von der Papawelt in die Mamawelt zu gelangen. Gezeigt werden jeweils zwei traurige Mädchen, Luna und Hannah, die mit ihrer Tasche am Wechseltag alleine mit der Bahn fahren müssen. Mich als Wechselmodellmama stimmen diese Bilder auch traurig. Wie soll es dann erst Eltern ergehen, die im Residenzmodell leben oder gar Mütter, die auf keinem Fall ein Doppelresidenzmodell in Betracht ziehen?

Die Mütterlobby und die Vaterlobby kommen auch kurz zu Wort in diesem Beitrag. Überall stehen Einzelschicksale dahinter. Überall müssen die Kinder den Zwist der Eltern austragen. Die Gründe sind so vielfältig und individuell, dass sie viele weitere Sendungen über Trennungskinder füllen könnten. Wie eben auch das Schicksal von Tom, Vater zweier Söhne. Er betreut seine Kinder 6 zu 8. Das bedeutet, dass er auf zwei Wochen gesehen, seine Kinder an 6 Tagen betreut, die Mutter an 8 Tagen. Damit ist er voll unterhaltspflichtig, obwohl eine fast gleichwertige Betreuung stattfindet. Einer genauen 7/7 Aufteilung stimmt die Kindesmutter nicht zu.

Ganz anders macht es eine Familie aus Hamburg im Nestmodell. Hier sind die Geschwister Joshua und Charlotte in der vormals ehelichen Wohnung geblieben und die Eltern pendeln abwechselnd zwischen den Haushalten hin und her. Auf die Frage, ob es einfach ist, als Eltern die Tasche zu packen und dieses Modell zu leben, antwortet die Mutter Tanja: „Ich glaube nicht, dass irgendein Modell einfach ist.“ Für Trennungskinder ist das Nestmodell sicher die beste Variante einer Nachtrennungsfamilie. Nicht mal 2 % aller Familien können sich dieses Modell jedoch finanziell leisten. Für das Wechselmodell an sich entscheiden sich immerhin 5 % der Trennungseltern in Deutschland. Doch im Vergleich mit anderen europäischen Ländern sind wir wieder mal Schlusslicht des modernen und gleichberechtigten Denkens.

Im Beispiel von Hannah wird deutlich, was passieren kann, wenn man vom Wechselmodell zurück ins Residenzmodell möchte. Da der Vater der 12-Jährigen eine neue Partnerin mit Kind hat, wollte sie lieber wieder bei der Mutter wohnen, anstatt wöchentlich zu wechseln. Doch vor Gericht wurde dies abgelehnt, mit den Worten, wenn die Mutter so sehr klammere, müsse das Kind eben komplett zum Papa. Hannahs Mutter wäre dazu bereit gewesen, um es ihrer Tochter zu erleichtern, doch diese nimmt weiterhin das Wechselmodell auf sich um ihre Mutter weiterhin oft zu sehen. Hier bleibt die Frage: Was können wir unseren Kindern zumuten?

Kindeswohl und Kindeswille sind demnach nicht immer ein und dasselbe. Patchwork und neue Lebenspartner sind eine große Herausforderung, die nur gelingen kann, wenn alle Beteiligten sensibel, aber auch nicht zu übervorsichtig auf die Kinder schauen. In einer normalen Kernfamilie muss ein Erstgeborenes schließlich auch mit dem jüngeren Geschwisterkind klar kommen und sich die Aufmerksamkeit teilen.

Und ich denke, darum geht es. Wenn wir als Trennungseltern unseren Kindern weiterhin die nötige und liebevolle Aufmerksamkeit widmen und selbst gut mit der Trennungssituation klarkommen, ist ein Wechselmodell das „bessere Übel“ als das Residenzmodell. Die heile Welt der funktionierenden Familie ist eine Utopie, an welche sich Kinder gerne klammern und diese idealisieren.

Wie können wir es also unseren Kindern erleichtern sich in den zwei Welten zurechtzufinden?

Stigma Pendeltasche: alle notwendigen Sachen doppelt führen. Lieblingsklamotten notfalls zweimal anschaffen. Wechsel nur mit dem Nötigsten.

Stigma einsames Kind mit Tasche in der Bahn: Wechseltage nach einem Schultag einrichten. So wechseln Kinder nach dem Unterricht „nur“ mit ihrem Schulranzen (Doppelsatz Bücher kann man sich von der Schule ausgeben lassen). Wenn es trotzdem das Wochenende sein soll, dann erleichtern Eltern den Wechsel, indem sie die Kinder bringen und abholen. Egal ob mit Bahn oder Auto.

ARD Mediathek Januar 2021 Pendelkinder

Spiegel Artikel Eine Woche Mama, eine Woche Papa

5 Kommentare zu „Pendelkinder

  1. Schöner Artikel!

    Ich bin einer der Väter, die nur ganz knapp knapp unter 50% betreuen, weil die Mutter ihre finanziellen Vorteile sichern möchte. Außer der bestehenden alleinigen Zahlungspflicht leben wir also das Wechselmodell vollumfänglich.

    Zur Reportage:
    – ich war ob der Aufmachung der Reportage manchmal etwas irritiert, weil die unterschweillige Botschaft eher negativ statt positiv war. Ja, Trennungen sind nie positiv! Der Vater wurde mit der Aussage gezeigt, dass das Wechselmodell „nicht das beste Modell“ ist. Nun, natürlich nicht. Eine perfekte Welt gibt es nicht. Aber das beste unter den gegebenen Rahmenbedingungen erzielbare Modell dürfte es sein, da eine heile Familie in einer heilen, idealen Welt nun einmal nur eine nette Illusion ist.
    – Im Blog bereits angesprochen auch die Zugfahrt alleine, die es bei uns nicht gibt und bei keiner anderen Nachtrennungsfamilie, die ich kenne. Immer wechseln die Kinder entweder über die Schule oder werden von einem ET zum anderen gebracht. Die Reportage zeigt ein problem, das es wohl eher selten in der Praxis gibt.
    – meine Kinder nehmen (außer Schulsachen) nur das zum anderen Elternteil mit, das sie mitnehmen wollen. In der Praxis heißt das meist: Nichts. Heute wurde von K3 EIN Weihnachtsgeschenk mitgenommen. Ohne Tasche, hat er einfach in die Hand genommen, und große Dramen gibt es da nie. Ich kann also den vermittelten Eindruck in meinem Erleben absolut nicht bestätigen.
    – im Beispiel von Hannah wird einmal wieder zweierlei deutlich: 1. was passieren kann wenn man die Unterhaltspflicht an Prozentsätze der Betreuung bindet: Die Eltern werden evtl. unfähig, sich tatsächlich Gedanken darüber zu machen, was für ihr Kind am besten ist. 2. Die Welt ist nicht schwarz/weiß: Für ein gesundes Aufwachsen braucht es nicht nur ein Elternteil, sondern immer beide. „Komplett zum Papa“ darf also nie passieren, das Kind muss immer Kontakt zum anderen Elternteil halten. In welcher Intensität, das sollte idealerweise dem Kind überlassen werden. Durch das in D existierende Unterhaltsrecht wird dies jedoch unmöglich, so bald einer der Ex-Partner eine faire finanzielle Einigung verweigert. Das Kind wird so unweigerlich zum Spielball finanzieller Interessen. Eine Schande für dieses Land, so etwas jahrzehntelang zuzulassen bzw. teils sogar aktiv zu fördern.

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  2. Wir haben tatsächlich eine ganze Zeit lang das Nestmodell praktiziert. Ich hätte auch weiter gemacht trotz der sehr unbequemen Wohnsituation in den Wochen alleine (bei Freunden im Gästezimmer), aber die Ex-Frau hat das nicht durchgehalten mit ihrem WG Zimmer. Aber immerhin gab es so für die Kinder eine weiche Landung und wie Eltern ziehen trotz Trennung immer noch an einem Strang.

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  3. Ich finde die Sendung ehrlich gesagt nicht besonders gut, dieses ewige Zeigen und kommentieren des Aspektes “Tasche Packen”, und der eindeutig wertende Kommentar der Sprecherin. “Sie muss die Trennung jede Woche schultern…”
    ich weiß jetzt nicht ob das einfach filmisch das einzig spannende war weil etwas “vermeintlich nicht normales passiert” denn ansonsten ist der Alltag ja ganz normal -aber eben doppelt.
    Dazu fehlte mir der Vergleich zum Residenzmodell, denn da muss doch auch gepackt und hingefahren werden!
    Die Sendung vergleicht eher den Zustand “heile Ehe” und Wechselmodell als Residenzmodell (mit den Bekannten Nachteilen für die Kinder) und Wechselmodell bzw Nestmodell. Natürlich wäre eine harmonische Familie ohne Trennung optimal, aber das ist ja nicht der Startpunkt der Entscheidung darüber welches Modell gelebt wird!
    Und Kinder finden übrigens das Tasche Packen zB für Sport und Schule auch nervig/anstrengend… das heißt ja nicht gleich, dass es schädlich ist.
    In meinem Umfeld gibt es inzwischen einige Familien die das Wechselmodell praktizieren, keines der Kinder muss grossartig Taschen packen, oder alleine zur anderen Wohnung fahren.
    Bei uns läuft es trotz inzwischen Teenager-alter der Kinder auch sehr gut, man sollte natürlich nah aneinander wohnen, damit eben nicht wochenweise der Freundeskreis fehlt!
    (Bei uns heißt nah ca 15 min Fahrradweg)

    ( zur Erklärung einige Eckpunkte zu unserem WM: Die Kinder wollten von Anfang an das WM und haben es eingefordert, Kindergeld wird geteilt, keiner erhält vom anderen Unterhalt, größere Anschaffungen werden geteilt. Zeitliche Aufteilung ca 50/50 allerdings sehr flexibel seit die Kinder “selbstständiger” sind was Verabredungen usw angeht. Wir fragen in regelmässigen Abständen die Kinder ob es für sie so gut ist oder ob sie es ändern wollen, wozu auch beide Eltern bereit wären, obwohl bei uns der Papa eher mehr “klammert” wie er selbst zugibt.)

    Wir hätten auch das Nestmodell am perfektesten gefunden, das ist aber schlicht und einfach viel zu teuer.

    Ich hoffe das war jetzt nicht alles zu konfus, ich war jetzt doch etwas enttäuscht von der Sendung.

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  4. Hallo zusammen,
    ich selber lebe das Wechselmodell mit meinem Expartner und unseren gemeinsamen Kindern. Wir wohnen nur wenige Straßen voneinander entfernt und mittlerweile haben wir ein schönes Verhältnis (also wir Erwachsene , mein Exfreund, dessen neue Frau und ihr gemeinsames Kind, ok es ist erst 1 Jahr alt zuckersüß und kann für unsere Trennung rein gar nichts) Unsere Kinder gehen in beiden Haushalten ein und aus inkl. ihrer Freunde die entweder bei mir sind zum spielen oder im Haushalt des Vaters. Unsere Kinder nehmen immer nur Ihre Schulsachen bei ihrem Wechsel mit, ich war irritiert zu sehen, dass Kinder in der Reportage ihre Spielzeuge mit hin und herschleppen). Die ganze Reportage hat mich ein bisschen sauer gemacht, ich fand sie sehr negativ dargestellt und auch Wörter wie Stiefmutter und Stiefgeschwister finde ich in der heutigen Zeit sehr befremdlich. Der gemeinsame Sohn meines Expartners und seiner neuen Freundin ist weder der Halbbruder meiner Kinder noch der Stiefbruder. Er ist der Bruder.
    Ich telefoniere oder schreibe mindestens einmal am Tag mit meinem Expartner es gibt immer wieder was zu organisieren oder zu besprechen und auch mit den Kindern telefonieren wir oft, wenn sie nicht bei einem sind. Ich glaube wir leben mittlerweile ein sehr schönes buntes, manchmal chaotisches Wechselmodellleben mit viel Liebe für die Kinder. Die ARD Reportage fand ich einfach nur bescheuert:-).

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    1. Liebe Nadine, ganz lieben Dank für Deine Nachricht und Euer positives Beispiel! So stellt man sich Patchwork und Wechselmodell gerne vor und es motiviert, dass es solche gut funktionierende Modelle gibt. LG, Anne

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